Der Vorhang wird mit Schwung aufgezogen, das Fenster im Obergeschoss geöffnet. Die selbst beim Putzen immer perfekt frisierte und mindestens mit dunklem Lippenstift geschminkte Nachbarin hält ihren regenbogenfarbenen Polyesterstaubwedel mit schwarzem Stiel aus dem Fenster, klopft ihn dreimal an der Gaube ab und holt ihn wieder rein. Sie schließt energisch das Fenster, zieht mit ebensolchem Schwung den Vorhang zu. Etwa drei Minuten später öffnet sie den Vorhang wieder schwungvoll, öffnet das Fenster, hält den Staubwedel raus, klopft ihn erneut dreimal ab, holt ihn wieder rein, schließt Fenster und Vorhang. So geht es eine gute halbe Stunde, jeden Sonntagmorgen zwischen halb zehn und zehn.

Vom Esstisch in der Küche beobachtet er dieses wöchentliche Schauspiel. Fast richtet er sein Frühstück so ein, damit er dieses für ihn unverständliche Vorgehen beobachten kann. Was mag die Nachbarin wohl abstauben? Warum lässt sie das Fenster zwischen ihren Staubwedelausklopf-Momenten nicht auf? Warum öffnet sie ihr Fenster nie länger als diese fünf Sekunden? Am liebsten würde er bei ihr mal Mäuschen spielen.

Dieter. Es war schon lässig, wie er in nicht enden wollenden Deutsch-, Geschichts- und Werte-und-Normen-Kursen seine Pullover strickte. Man kannte ihn gar nicht ohne seinen ausgebeulten Juterucksack, der eine undefinierbare Farbe hatte und mehr Strickzeug als Schulbücher enthielt. Die Wolle, natürlich nur mit Naturfarben gefärbte, grobe Schurwolle, kaufte er immer als Strang in Teeläden, deren süßlicher Geruch vermutlich nicht nur durch Räucherstäbchen entstand. Erst wurden die Knäuel gewickelt, dann legte er los mit langen Rundstricknadeln, auf denen nach und nach Meisterwerke wuchsen, die nur aus einem einzigen Stück zu bestehen schienen. Komplizierte Muster, für die die Fäden mehrerer Wollknäuel gleichzeitig langsam wie haarige Raupen aus seinem Rucksack kletterten. Und immer mit Rollkragen, sodass er nie einem Schal brauchte.

Es war auch lässig, wie er dann seine Pullover unter einem verwaschenen Bundeswehrparka mit der obligatorischen Drahtbürste in der linken Brusttasche und mit superengen Wrangler-Jeans trug. Mittelscheitel und breite Boots aus ungefärbtem Leder rundeten den Look ab. 

Natürlich gehörte er zu der Clique von Jungs, die nach dem Sportunterricht duschten.

Wie geht es mit Dieter weiter? Lest es im „Notizenbuch!