Der Vorhang wird mit Schwung aufgezogen, das Fenster im Obergeschoss geöffnet. Die selbst beim Putzen immer perfekt frisierte und mindestens mit dunklem Lippenstift geschminkte Nachbarin hält ihren regenbogenfarbenen Polyesterstaubwedel mit schwarzem Stiel aus dem Fenster, klopft ihn dreimal an der Gaube ab und holt ihn wieder rein. Sie schließt energisch das Fenster, zieht mit ebensolchem Schwung den Vorhang zu. Etwa drei Minuten später öffnet sie den Vorhang wieder schwungvoll, öffnet das Fenster, hält den Staubwedel raus, klopft ihn erneut dreimal ab, holt ihn wieder rein, schließt Fenster und Vorhang. So geht es eine gute halbe Stunde, jeden Sonntagmorgen zwischen halb zehn und zehn.

Vom Esstisch in der Küche beobachtet er dieses wöchentliche Schauspiel. Fast richtet er sein Frühstück so ein, damit er dieses für ihn unverständliche Vorgehen beobachten kann. Was mag die Nachbarin wohl abstauben? Warum lässt sie das Fenster zwischen ihren Staubwedelausklopf-Momenten nicht auf? Warum öffnet sie ihr Fenster nie länger als diese fünf Sekunden? Am liebsten würde er bei ihr mal Mäuschen spielen.

Die sechs Stunden lange Zugfahrt konnte sie ihn geschickt verbergen. Vielleicht war der eine oder andere Passagier auf ihn aufmerksam geworden und hatte sich seinen Teil gedacht. Gemessen an seinem Äußeren kann man sich durchaus ein falsches Bild von ihm machen. Das ist verständlich, ihr aber ziemlich egal. Trotzdem verbarg sie ihn lieber, denn in Deutschland können nur wenige Menschen im positiven Sinne etwas mit ihm anfangen.

Wer ist „er“? Das erfahrt Ihr im „Notizenbuch.

Sie treten aus dem Haus hinaus in die Kühle des jungen Herbsttages. Die Sonne blinzelt zwischen den Ästen der Bäume hindurch. Es ist Sonntag, acht Uhr morgens. Fast mag man die Autotür nicht zuschlagen aus Sorge, jemanden unsanft zu wecken. Bei einem alten Auto machen Türen und Kofferraum nun mal mehr Lärm, bis sie geschlossen sind. Leise fahren sie an.

Die Hauptstraße ihres Dorfes führt an einer Pferdekoppel vorbei. Die Pferde darauf ruhen noch.

Eine Frau mittleren Alters fällt ihnen auf, die entgegen der Fahrtrichtung die Straße entlangläuft. Sie trägt einen eleganten, leuchtend lilafarbenen Overall, ein dünnes graues Jäckchen, eine Abendtasche und recht hochhackige, der Situation nicht gerade angemessene Schuhe. Während die Frau erstaunlich schnell läuft, tippt sie etwas in ihr Handy ein.

Werden wir erfahren, warum sie hier entlang läuft? Lest weiter im „Notizenbuch“.